Frieden als Wunsch

21. September 2020: Heute ist Weltfriedenstag der Vereinten Nationen. Viele politische Bemühungen laufen auf diesen Frieden hinaus, nicht zuletzt die 17 UN-Nachhaltigkeitsziele.

Die Erinnerung an Frieden kommt aber nicht nur aus der Politik, sondern auch aus allen Religionen:

Der im Islam gebräuchliche arabische Gruß „as-salāmu ʿalaikum“ lässt sich wörtlich mit dem christlichen Wunsch „Friede sei mit Dir“ übersetzen. Noch deutlicher wird die Nähe bei den Begriffen „Salam“ und dem hebräischen „Shalom“.

Und von „Shalom“ ist es nicht mehr weit zum Sanskrit-Begriff für Frieden, den Yogi*nis traditionell drei mal singen: Shanti, Shanti, Shanti – Frieden in unserem Inneren, Frieden in der Gemeinschaft, Frieden in der ganzen Welt.

Diese Erinnerung mag nur eine rituelle Gewohnheit, für einige sogar nur eine Phrase sein. Aber sie lohnt sich, denn Frieden bleibt auf allen drei Ebenen eine Herausforderung.

Frieden als Ziel

Spätestens seit Kant 1795 die Idee vom „ewigen Frieden“ formuliert hat, ist damit nicht nur der „ewige Frieden Gottes“ gemeint, der sich in der Meditation oder im Gebet erahnen lässt. Nicht mehr nur der Frieden, den wir unseren Verstorbenen wünschen: „Ruhe in Frieden“.

Es geht auch um den Frieden der Lebenden. Zwischen den Völkern, den Gemeinschaften, den Menschen.

Und es geht nicht zuletzt um Frieden in uns selbst, die Quelle des äußeren Friedens: Yoga ist mit Patanjali „das zur Ruhe Bringen der Gedanken im Geist“.

Dabei ist mit „Geist“ nicht nur der Verstand gemeint. Es geht auch um Gefühle und sonstige Regungen in uns – in einer etwas weiter gefassten Übersetzung um „das zur Ruhe Bringen der Fluktuationen im Bewusstsein“.

Unfrieden in Zeiten von Covid-19

Diese Ruhe wirklich zu erreichen scheint 2020 schwieriger geworden zu sein. Auch innerhalb der Yogawelt, die sich damit doch eigentlich am besten auskennen sollte. Doch selbst geübte Yogi*nis reagieren auf die Covid19-Pandemie mit aufgewühlten Gedanken und Gefühlen.

Frieden wollen vs. Frieden leben: Variante 1

So gibt es eine neue Bewegung, die von Frieden und Einheit spricht und weitere spirituelle Begriffe und Symbole nutzt. Sie demonstriert gegen Einschränkungen, Zumutungen, Unwahrheiten und berührt damit viele Menschen im Herzen, die diese Sehnsucht teilen.

Gleichzeitig toleriert sie bisher, dass bei ihren Demonstrationen auch offen rechtsradikale Menschen mitlaufen und mit dazu aufrufen. Menschen, deren Einheitsbegriff nur die Mitglieder einer vermeintlich überlegenen Rasse oder Volksgruppe ein- und alle anderen ausschließt.

Die übergroße Mehrheit der Spirituellen möchte mit diesen Kräften nicht gemeinsame Sache machen. Solange eine klare Abgrenzung fehlt, fällt allerdings auch die Unterscheidung schwer. Hier fehlt vielleicht das eigene „kritische Hinterfragen“, das auf den Demonstrationen oft gefordert wird.

Derweil nutzen einige den spirituellen Begriff des „erwacht“ Seins zu einer ganz anderen Grenzziehung: Statt anzuerkennen, dass jemand einfach eine andere Meinung vertritt als man selbst, ist z.B. die Rede von „Schlaf-Schafen“, die lieber folgsam ins Verderben laufen als sich von ihren Illusionen zu verabschieden.

Gleichzeitig werden Menschen der „Spaltung“ bezichtigt, wenn sie solche rhetorischen Ausgrenzungs-Versuche und die gleichzeitig fehlende Grenzziehung gegenüber Extremist*innen kritisieren. Sie würden damit einer manipulativen politischen Elite dienen, die nach dem Prinzip „teile und herrsche“ an einer solchen Spaltung interessiert sei – und damit die spirituelle „Einheit“ verraten, so der Vorwurf.

Frieden wollen vs. Frieden leben: Variante 2

Die Gegenseite in diesem Konflikt schreibt sich ebenfalls Spiritualität auf die Fahnen. Sie wünscht sich mehr Mitgefühl für Risikogruppen und klarere Abgrenzung gegenüber Demokratiefeind*innen. Und sie kritisiert zum Beispiel die mangelnde Unterscheidungskraft („Viveka“) von Menschen, die zwar „quer denken“ wollen, aber dabei Widersprüche nicht wahrnehmen:

So ist oft die Rede von einer „Diktatur“, obwohl gerade diese Rede in einer echten Diktatur nicht folgenlos wäre. Oder das Mediensystem wird als Propagandamaschine bezeichnet, während gleichzeitig unkritisch Positionen aus YouTube-Videos oder Telegram-Kanälen übernommen werden.

Das kann man kritisieren, ebenso wie die historisch unhaltbare Gleichsetzung der heutigen Demonstrationen mit dem Widerstand gegen die Nazis oder der friedlichen Revolution gegen die DDR-Führung.

Auch diese Kritik geschieht allerdings nicht immer friedvoll: Wer auf Demonstrationen geht um die staatlichen Pandemie-Maßnahmen zu hinterfragen wird schnell als „Schwurbler*in“ oder gleich als „Nazi“ angegriffen. Auch hier wird nicht differenziert, sondern diffamiert. Und dabei geht Verständnis für Inhalte verloren.

Als Beispiel: Auch wenn Bill Gates kein Satanist ist, der die Virus-Entwicklung in Wuhan persönlich beauftragt hat (das wäre wirklich eine Verschwörungs-Theorie), ist er nicht demokratisch legitimiert und übt dennoch Einfluss auf die Weltgesundheitsorganisation aus.

Das zu benennen ist sicher nicht rechtsradikal. Es erinnert schlicht an demokratische Werte wie Mitspracherecht und Transparenz.

Frieden als Mittel der Selbst-Überhöhung

So finden sich auf beiden Seiten gute Argumente und auf beiden Seiten auch Verzerrungen, Übertreibungen und Unwahrheiten.

Und nicht zuletzt gibt es auf beiden Seiten die Tendenz, sich selbst für „spirituell überlegen“ zu halten. Als „Krieger*innen des Lichts“ das Gute zu verteidigen, während die anderen nur friedlich tun, aber „in Wirklichkeit“ mindestens aus Unwissenheit Menschen gefährden, vielleicht sogar Böses im Schilde führen.

Es geht offenbar darum, auf der „richtigen Seite“ des geistigen Kampfes zu stehen, den die Bhagavad Gita beschreibt. Dabei scheint die Botschaft aus Kapitel 6 dieser wichtigen altindischen Schrift ins Hintertreffen zu geraten: Die Betonung von Maß und Mitte, und einmal mehr: Von Ruhe im Geist, innerem Frieden.

Frieden finden in einer Welt der Gegensätze

Dieser Friede bedeutet keine Abkehr von der Welt. Handeln und Eintreten für die eigenen Überzeugungen bleiben in der Dualität bzw. Multipolarität möglich und nötig. Sogar wenn man im Advaita- oder buddhistischen Sinne unser irdisches Dasein für eine Illusion hält, können wir innerhalb dieser „Maya“ weder Essen und Schlafen noch die Teilnahme an Konflikten auf Dauer vermeiden.

Es geht im Yoga also nicht um „spiritual bypassing“ – das Ausblenden der irdischen Realität durch den Rückgriff auf spirituelle Thesen. Allerdings kann uns der innere Friede, den Patanjali als Ziel bzw. Wirkung des Yoga beschreibt, dabei helfen, das Äußere friedvoller zu gestalten. Weil er uns die Ruhe zum Unterscheiden schenkt:

Friedvoll unterscheiden (lernen)

Es gibt erstens Personen, Informationen und Ereignisse, die uns äußerlich „triggern“. Was das ist, kann je nach Prägung sehr unterschiedlich sein. Die einen stören sich an Maskenpflicht, die anderen an Maskenverweigerung, die einen an Bill Gates, die anderen an Attila Hildmann, etc.

Zweitens gibt es unsere eigene innere Reaktion auf diesen Außenreiz, zum Beispiel Angst, Wut, Traurigkeit, etc.

Drittens gibt es oft einen vorbewussten Drang, diese innere Reaktion direkt nach Außen zu geben: Als physiologische Entlastung durch Kampf, Flucht oder auch Totstellen.

Wie wir wirklich reagieren ist aber kein Automatismus, sondern steuerbar. Es gibt auch friedvolle Wege, die eigene Position zu artikulieren, dabei klare Grenzen zu ziehen und dennoch respektvoll gegenüber den Menschen zu bleiben, die die Dinge nun einmal anders sehen als man selbst.

Die Gewaltfreie Kommunikation kann hier ebenso Inspiration geben wie Weisheit der amerikanischen Ureinwohner*innen, nicht über Menschen zu urteilen „ehe man eine Meile in ihren Mokassins gegangen ist“.

Und natürlich hilft auch die Rückbesinnung auf die „Yamas“ – die yogischen Verhaltensregeln. Darin geht es um Gewaltlosigkeit, Wahrhaftigkeit, Achtsamkeit, Maßhalten, Verhaftungslosigkeit – und das nicht ohne Grund:

Frieden mit Andersdenkenden

Denn wenn wir ernst meinen, was wir im Mantra „Lokāḥ samastāḥ sukhino bhavantu“ besingen – dass alle Wesen glücklich sein mögen – schließt das auch diejenigen mit ein, die die Welt anders sehen oder anderer Meinung sind als wir selbst.

Das betrifft Menschen, die Covid-19 anders beurteilen und auch alle, die an diesem Text etwas auszusetzen haben. Und es betrifft natürlich auch Menschen hier in Bad Meinberg, die Yoga eher skeptisch sehen und lieber lippische statt indische Folklore pflegen:

Es spricht nichts dagegen, auch diesen Menschen die Vorteile einer yogischen Lebensweise näher zu bringen. Das hat schon jetzt dazu geführt, dass es erfreutlich viele vegetarische und vegane Angebote und einen Yoga-Erlebniswanderweg in der Stadt gibt.

Auch hier gilt es allerdings, das richtige Maß zu finden zwischen ambitioniertem Eintreten für die eigene Sache (auch wenn sie sich subjektiv so anfühlen mag als sei sie „universell gültig“) und einer gar nicht friedlichen Grenzüberschreitung.

Uns daran immer wieder zu erinnern und so oft wie möglich danach zu handeln bleibt innere Arbeit, auf deren Wichtigkeit dieser besondere Tag aufmerksam macht.

In diesem Sinne: Einen persönlich friedvollen Weltfriedenstag – Om Shanti!